Er ist konzentriert.
Ganz in sich versunken und in den Gegenstand seiner Arbeit …
Auf und ab senkt sich sein Brustkorb im Rhythmus des ein- und ausströmenden Atems. Er wirkt abwesend. Und doch ist er da: In vollster auratischer Präsenz. Spürt nicht, dass er beobachtet wird – dass er zum Träumen anregt in seiner vollkommenen Anwesenheit.
Menschen, die die Fähigkeit besitzen, sich mit tiefer Leidenschaft und Hingabe in eine Aufgabe zu vertiefen, übten schon immer eine große Anziehungskraft auf mich aus.
Es ist so, als würde ihre Ruhe unmittelbar auf mich überspringen, als fände ein Teil von mir bei ihnen ein Zuhause. Und sei es nur für den Moment des Zusehens, die Minuten, oder vielleicht sogar Stunden, die dies dauert …
Sinnlich ist das – und zutiefst erotisch.
Er ist ein Mann am Scheideweg – am Scheidungsweg. Seine Beziehung liegt in Scherben. Unrettbar. Ein große Leere breitet sich in ihm aus. Er braucht etwas, das ihm Halt gibt. Und er findet es – in einer Aufgabe, die er sich gesucht hat. Ein Handwerk, das er selber erfunden – entwickelt und definiert hat: Ein Kunsthandwerk:
Die Kunst, einen Bleistift zu spitzen.
Es gibt Situationen im Leben, wie die oben geschilderte, in denen uns der Sinn des Lebens vollkommen abhanden gekommen zu sein scheint. In der wir vor unserem Leben stehen, es betrachten mit all seinen Bereichen und Aufgaben, seinen Alltäglichkeiten und Besonderheiten – so wie wir es uns zum Teil erschaffen haben, wie es sich zum Teil aber auch aus den von uns gewählten Komponenten selbst erschaffen hat. Nach und nach haben wir die Zutaten ausgewählt und stehen nun plötzlich vor einem Kuchen, der uns überhaupt nicht mehr anspricht. Oder er ist einfach in sich zusammengefallen, weil die wichtigste Zutat nicht mehr zur Verfügung steht …
Solche Zustände können verheerend sein, vor allem, wenn man sucht und sucht und weit und breit keine andere Zutat da ist, die diesen Verlust kompensieren könnte. Nihilistische Leere – absolute Sinnlosigkeit – auf der ganzen Linie … Keine der bisherigen Aufgaben gibt mehr Halt und Sinn.
Ein erschreckendes Szenario – vor dem aber fast jeder Mensch mindestens einmal im Leben stehen kann.
David Rees – der Handwerker, von dem ich eingangs sprach, und Verfasser des Buches „Von der Kunst, einen Bleistift zu spitzen“ – hat als Weg aus seiner Lebenskrise heraus einen ganz speziellen Weg gewählt. Das heißt: So speziell war der Weg eigentlich gar nicht. Der Weg war ein bewährter: Ich fokussiere mich auf eine vollkommen neue Aufgabe, versuche, wieder ins Handeln zu kommen, voranzugehen.
Ich gebe meiner Entwicklung einen leichten, liebevollen Tritt in den Hintern, damit es vorwärts geht. Einfach nur vorwärts. Wenn auch hinkend und zunächst widerwillig – aber vorwärts …
Nein, nicht der Weg, aber der Gegenstand, den er gewählt hat, war ein spezieller: es war der Bleistift – genauer gesagt die Technik des Anspitzvorganges. Ein ganzes Buch hat David Rees darüber verfasst, und dieses dient nicht nur der spitzfindigen Einführung in die unterschiedlichen Techniken des Bleistiftanspitzens – die er über ein Jahr lang eingeübt und perfektioniert hat – es dient auch der Manifestation einer Ästhetik:
Für Rees ist
einen Bleistift zu spitzen […] ein ästhetisches Erlebnis, das alle deine Sinne anspricht.
(S. 45/46)
Und er entwickelte daraus für sich eine neue Lebensphilosophie, die ihm letztlich eine neue Zukunft eröffnet hat. Denn Rees arbeitet seither als professioneller Bleistiftanspitzer in New York und man kann Bleistifte bei ihm einschicken und für 12 Dollar spitzen lassen.
Sinnlos?
Wieso?
Was kann denn sinnloser sein als eine verlorene Perspektive und sinnvoller als ein kleiner (wichtiger) Gebrauchsgegenstand, dem man seine ganze ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt, um ihn in seiner Vielseitigkeit und in seinem Wert zu entdecken. Und Rees zeigt damit: Es sind die kleinen Dinge, die dem Leben Sinn geben.
Natürlich gibt es auch große Dinge. Tragende, gewichtige Dinge, die von vielen Personen wahrgenommen und als wertvoll erachtet werden – aber wenn diese auf einmal nicht mehr da sind, was dann? Dann gibt es immer auch etwas Kleines, das man vollkommen neu für sich entdecken kann, und das damit immer größer wird – nicht nur für einen selber, sondern auch für die Menschen, die man nach und nach an seiner Entdeckung teilhaben lässt. Das vermeintlich Kleine kann sich dann auf einmal als deine neue Lebensaufgabe und -vision entpuppen …
Es gibt Menschen in meinem Umfeld, die in ihren Berufen und in ihrem Leben Großartiges leisten. Menschen, die große Werke vollbringen, mit berühmten Kollegen zusammenarbeiten und selber hoch angesehen in ihren Berufen sind.
Sie leben den Luxus, die Anerkennung – aber auch den Neid – vieler anderer genießen zu können.
Und keine Frage, es ist toll, solche Anerkennung in seiner Arbeit zu finden. Es kann einem unglaubliche Erfüllung geben!
Hohes Ansehen ist aber auch mit einer Menge Druck verbunden.
Und nicht selten entgleitet einem die eigene, ursprünglich einmal aus Liebe und Hingabe an die Thematik gewählte Aufgabe ins Äußerliche und in die Fremdbestimmung. In die Sucht nach dem Halten der Anerkennung – und in den Verlust deiner ursprünglichen Berufung. Eine Sucht, die nicht selten dazu führt, dass sich dein – und oftmals auch das Leben deiner Familie – nur noch und ausschließlich um deinen Beruf dreht. Und alle und alles sich diesem und seinen Anforderungen unterordnen muss.
Workaholismus – ein Begriff, der so gerne mit einem leichten Schmunzeln verwendet wird … Dabei ist es im Grunde eine schlimme Sucht und Besessenheit nach Arbeit, der alles Andere untergeordnet und dienstbar gemacht wird – in dessen Rahmen sich alles fügen muss: Deine Muße, dein Schlaf, deine Beziehungen, Familie, Leichtigkeit, Lebenssinn …
Workaholismus – eine Matrix, in der die Bewertung deines Lebens sich am Maßstab deiner Arbeit misst. In der keine Zeit für scheinbar „Nebensächliches“ „verplempert“ wird …
Workaholismus – die Tyrannei des Berufes. Nicht weniger gefährlich für Leben, Gesundheit und soziale Beziehungen als jede andere Droge!
Hier wendet sich das Blatt der anziehenden Versunkenheit in eine Tätigkeit hin in eine suchtgetriebene Besessenheit, die den Maßstab des Menschlichen verliert.
Ich wünschte mir oft, dass diese Menschen sich auch mal die Zeit nehmen, um so ein Buch wie Rees Anspitzbuch zu lesen. Einfach so. Das kleine Buch eines Menschen lesen, der nach einem tiefen Einbruch in seinen Lebensplänen seinen alten (sehr erfolgreich ausgeführten) Beruf an den Nagel hängte, und ein kleines, so unbedeutend erscheinendes Handwerk erfand …
Sich den Luxus gönnen, sich die Zeit zu nehmen, um in etwas, das keinem direkten Zweck dienlich sein soll, hinabzutauchen. In die Langsamkeit, die ein wirklich bewusst ausgeführter handwerklicher Vorgang erfordert und die nur einem klitzekleinen – scheinbar unspektakulärem Ziel dient: nämlich dem Ziel, einen schön gespitzten Bleistift zu haben.
Just a pencil!
Nicht der Ruhm. Nicht die wissenschaftliche oder künstlerische Größe, die beständig von der Ferne verlockend mit ihren Lorbeerblättern winkt. Nicht das Gehalt …
Das hat für mich viel zu tun mit ehrlicher, wirklicher Demut. Demut vor dem Bewusstsein, dass meine Lebenskräfte begrenzt sind und dass ich sorgsam mit ihnen umgehen muss. In der Verantwortung vor mir und dem Leben, dem großen Geschenk, das ich bei meiner Geburt erhielt und das ich missbrauche, wenn ich es für die Selbstbehauptung meines Egos auf dem beruflichen Schlachtfeld des äußeren Erfolgs aussauge.
Auch die Muße wird dazu oft funktionalisiert: Ich gönne mir Muße, um wieder Kraft für die Arbeit zu tanken. Und sobald ich wieder ein klitzekleines Quentchen Kraft spüre, dann rase ich zurück an meinen Schreibtisch, um diese in die richtigen mir Anerkennung verheißenden Bahnen zu kanalisieren. Möglichst sollte diese Muße dann auch in irgendeinem Zusammenhang mit meiner Arbeit stehen …
Vor dem Leben sind sie alle gleich: Der vermeintlich große Künstler, Professor, Manager, Musiker … und der kleine Bleistiftanspitzer! Wirkliche Demut vor dem Leben kennt es nicht, das leicht amüsierte, herablassende Lächeln des scheinbaren Erfolgs.
Und so ziehe ich meine Lehre aus der kleinen, humorvollen Abhandlung von David Rees über „Die Kunst, einen Bleistift zu spitzen“, einem scheinbar so nichtigen Gegenstand:
Dass jedes meiner kleinen Worte, die ich schreibe, jedes Aufstehen am Morgen – jeder erreichte Abend, jeder freundlich verlebte Tag – kleine große Schritte sind.
Und der Frieden in meiner Seele ist die Antwort und das Geschenk des Lebens an mich.
Deswegen liebe ich das tägliche Schreiben. Das Schreiben meiner Morgenseiten und/oder Abendnotizen. Das Schreiben, bei dem nur ich präsent bin und kein Zuschauer oder potentieller Laudator. Das Schreiben, das nicht dazu da ist, um von anderen gelesen zu werden!
Deshalb liebe ich meine Schreibbeziehung!
Deine Doro
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