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AutorenbildFriederike Kunath

Wie man Aufrichtigkeit macht. Eine Adventsgeschichte

Aktualisiert: 17. Okt. 2020



Gebeugt, verkrümmt seit 18 Jahren. Nicht mehr aufrecht gehen können. Sie sitzt und hört den Meister, sie ist gekommen, um dabei zu sein, mit den anderen, denn hören kann sie ja gut. Und er kann gut erzählen, von backenden Frauen und singenden Vögeln und wie Gott ihnen ähnelt. Das gefällt ihr.


Einmal erzählte er von einer Frau, die im ganzen Haus eine Münze sucht, die sie verloren hat. Wie sie alles durchfegt, jeden Winkel, geduldig, sorgsam, hartnäckig. Das könnte sie selbst sein. Es ist ja nicht so, dass sie ganz und gar untätig wäre, nur weil sie so gekrümmt ist. Ihr Haus fegen, das tut sie zum Beispiel. Sehr langsam und gründlich und dabei sieht sie alles, was so auf dem Boden liegt. Was nicht alles auf dem Boden liegt! Die Leute gucken ja nicht hin, sie haben ihre Köpfe in den Wolken.


Sie findet das einen schönen Gedanken, dass Gott auch so ist wie sie, wie eine Frau, die eben ganz gründlich das ganze Haus durchfegt, nur für eine Münze! Und die auf den Boden schaut, viel mehr als in die Wolken.


Hat Gott auch einen krummen Rücken davon?


Diese Geschichten nimmt sie mit nach Hause und murmelt sie in sich herum, während sie auf den Boden sieht. Deshalb ist sie jetzt hier, um neue Geschichten zu hören. Sie schaut nach unten, die anderen lassen sie in Ruhe.


Ich stelle mir vor, wie es ist, so stark gekrümmt, nach vorn gebeugt zu sein, dass ich mich nicht mehr aufrichten kann. Von innen her eingezwängt. Kein äusseres Gefängnis, keine sichtbaren Fesseln, viel schlimmer, eher wie von einer gemeinen Macht selbst verbogen und niedergedrückt, wie der Meister sagt. Jetzt steht er so nah, dass sie seine Füsse sehen kann. Dass er stärker ist als diese fiese Macht über ihr Leben, das weiss sie noch nicht.


Sie schaut nach unten, sieht ihre Füsse. Das ist das Normale. So ist es eben, das sieht man eben, wenn man so sehr gebeugt gehen und stehen und sitzen muss. Wenn ich mit jemandem spreche, was selten geschieht, sehe ich mein Gegenüber, eher mein Obenüber, nicht an. Ich kann es nicht, nicht richtig. Ein wenig, so schief von unten, wie es gerade geht. Aber es lohnt sich eigentlich nicht, die Blicke sind es nicht wert, die ich bekomme. Ich verstehe das, niemand schaut gern auf jemanden so herab, der einen schief von unten ansieht. Das ist würdelos. Für mich vielleicht gar nicht mal, aber für den anderen da oben.


Die Köpfe der anderen sind weit weg, ihre Ohren und Münder. Näher sind mir die Kinder und Tiere. Und Füsse. Ich sehe Füsse, aller Art, so viele, so unterschiedlich sind sie! Ob die Leute wissen, wie unterschiedlich ihre Füsse sind? Klein oder gross, beschuht oder nackt, schmutzig oder geputzt.


Den Himmel, den sieht sie nicht.


Weder den Himmel noch die Wipfel der Bäume noch die Vögel. Ich habe von Studien gelesen, die nachweisen, wie die Körperhaltung und die Blickrichtung unsere Stimmung beeinflussen. Sich einmal am Tag aufrichten und nach oben in den Himmel schauen, eine Weile, eine gute Weile, kann Wunder wirken. Wir verschenken uns meistens von selbst dieses Wunder, wir, die wir aufrecht gehen können und in den Himmel schauen können. Könnten.


Sie, die Frau, kann es nicht. Den Himmel sieht sie nicht. Bis dieser Lehrer sie anspricht, berührt und heilt. “Da richtete sie sich auf und pries Gott.” Der Streit, der dann folgt, um die Frage, ob es denn richtig gewesen sei, sie an einem Sabbat zu heilen, das sei doch Arbeit, den kriegt sie gar nicht mehr richtig mit. Sollen sie sich streiten.


Sie, sie steht aufrecht und schaut nach oben.

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