Es ist Abend.
Endlich kehrt Stille ein. Für mich der Zeitpunkt, an dem sich meine Gedanken legen – überschaubarer werden und danach rufen, dass ich sie sortiere und einordne in ein großes Ganzes. Ich blicke aus dem Fenster und die letzten Strahlen der untergehenden Sonne streicheln noch einmal liebevoll über mein Gesicht … endlich sind sie erträglich! Nicht mehr grell, viel mehr am Tag bescheinend, als meine Seele in der Lage ist zu erfassen.
Zu viel.
Ja: Zu viel! So lautet mein Resümee fast an jedem Tag … Doch wenn der abendliche Frieden einkehrt, dann begebe ich mich in einen ganz besonderen Raum.
Mein Raum.
Diesen Raum, kann ich überall hin mitnehmen und er öffnet sich mir überall!
Nur zwei klitzekleine Bedingungen müssen erfüllt sein: Dass Ruhe ist und dass Zeit für mich ist – ohne mein Kind (das hoffentlich bald schläft), ohne irgendwen oder irgendetwas, der oder das mich noch beanspruchen könnte heute Abend.
Es ist ein geheimer Raum und ein Raum, der des Schutzes bedarf und zwar durch niemanden anderen als durch mich. Dieser Raum lehrt mich Selbstbehauptung, denn ich alleine bin die Hüterin dieses magischen Ortes. Ich bin seine Protagonistin und diejenige, die darüber bestimmt, wer und was hinein darf. Ich muss ihn aufrechterhalten und pflegen.
Ich liebe Räume! Vor allem, wenn sie leer und zu füllen sind. Wenn sie nach Gestaltung rufen. Dann bin ich da und meine Ideen sprudeln. Ich dekoriere, stelle Möbel hinein oder um, hänge Bilder und Spiegel auf. Ja, ich liebe meine Wohnung, die mittlerweile eigentlich schon mehrere Wohnungen ist, so wie ich mich in ihr ausgetobt habe. Hier habe ich auch meinen ganz konkreten Schreibplatz – an besagtem Fenster – und hier habe ich es gelernt, mich zuhause zu fühlen und so einen wichtigen Pfeiler für meine Identität errichtet.
Doch der Raum, von dem ich hier spreche, ist nicht an diese Wohnung gebunden, aber er ist ein weiterer wichtiger Pfeiler meiner – mitunter noch recht wackeligen – Identität.
Er ist mein geheimer Raum
– mein Tagebuch.
Seine Wände sind denkbar einfach gehalten: Sie bestehen aus klarem weißen, manchmal auch aus elfenbeinfarbenem Papier und nur ich bin diejenige, die ihn mit Leben füllen kann – mit meinem Leben!
Mein Tagebuch ist mein Denk- und Schreibraum. In ihm kann ich alles zur Sprache bringen, was mich zur Zeit beschäftigt. Für ihn ist nichts zu banal, um Erwähnung zu finden. Hier kann ich träumen, wüten, tanzen. Er fängt mich nach jedem Tag, durch dessen Chaos ich mich habe durchwühlen müssen, auf. Er ist mein Ziel. Uff – wieder geschafft!
Mein Tagebuch-Raum ist es, in dem durch mich Sinngebung stattfindet. Hier kann ich die Fragmente meines Alltagslebens miteinander in Verbindung bringen, sie gewichten und aussortieren, was mein Hirn nicht weiter quälen soll. Hier puzzle ich alles Erlebte zusammen.
Mein Tagebuch hat eine ungemein integrative Funktion!
Hier ist Sprachraum für die Teile meiner Seele, die sonst nur schwer Gehör finden. Er ist ein Raum, der sich seine Ordnung sucht – eine Ordnung, die gut tut, die mir hilft, klarer zu sehen und zu denken. Zwar besuche ich ihn am liebsten abends, aber er öffnet sich mir zu jeder Tages- und Nachtzeit, wenn ich ihn brauche.
Ein Raum für die Schreibsau!
Und das absolut Beste hier ist: Er ist ein Raum, um vollkommen ungeniert Fehler zu machen, ja sich geradezu darin zu suhlen! Die perfekte Germanistin darf hier einfach so rumkrakeln und -texten. Kann sich syntaktischer und semantischer Fesseln entledigen – darf eine erschöpfte, enthusiastische, lebendige oder todmüde Sprache sprechen, so wie sie in gerade diesem Moment aus ihr herausfließt – mit allen Fehlerchen und Inkorrektheiten. Und die reflektierte Theologin darf hier einfach nur Fühlende sein: die Liebende, aber auch die Hassende, die vor Leben Übersprudelnde oder die Geschlagene. Und hier darf ich auch so richtig unsachlich sein – ohne jemandem zu nahe zu treten. Wie wunderbar! Hier lasse ich die Schreibsau raus, wenn mir danach ist: Wo kann ich sonst so schamlos und unbefangen sein!
Der Ort der absoluten Freiheit!
Und er ist ein wundervoller Ort, um herauszufinden, worauf mein Fokus gerade ausgerichtet ist (siehe Blogbeitrag von Friederike: Wenn es nicht gelingt, dich zu fokussieren.)
Bedrohung und Rettung meines Raums
Aber es war durchaus ein langer Weg, der mich zu dieser engen Raum-Freundschaft führte. Den Schatz dafür habe ich mir hart erarbeiten müssen, denn als ich 17 war, stand dieser Raum sogar kurz vor der Zerstörung durch einen Eindringling und es brauchte Jahrzehnte, bis ich mich wieder sicher fühlen konnte und lernte, ihn angemessen zu schützen! Ein harter Weg war das – aber ich habe ihn mir zurückerobert!
Und bei dir?
Wie sieht es aus mit deinem Rückzugsort? Gibt es da auch ein Buch oder etwas Vergleichbares? Oder hast du andere Räume, die diese Funktion erfüllen, für dich entdeckt? Einen Naturraum – einen Sprechraum …
Und wenn nicht, wie könnte dieser Raum aussehen? Welche Begebenheiten müssen erfüllt sein für welche Bedürfnisse?
Überleg doch mal!
Vielleicht konnte dich mein Text ja dazu inspirieren, die regelmäßige Chance zu nutzen, außerhalb von Wissenschaft, Arbeit und Co. in den Schreib- und Denkfluss zu kommen?
Versuche es doch mal! Vielleicht findest du ja heute schon ein wenig Ruhe, um das Tagebuchschreiben zu beginnen, zu vertiefen oder einfach in besonderem Maße zu pflegen. Sammle sie ein, die wundervollen Momente, die das Leben mit seinen angefüllten Tagen dir schenkt und die vielleicht so klein und leise sind, dass sie, wenn sie nicht von dir aufgeschrieben werden, einfach untergehen würden … Und vielleicht entdeckst du so diesen Raum für dich oder du entdeckst ihn wieder neu … deinen ganz eigenen magischen Raum – dein Tagebuch!
Deine Doro
Über die Autorin: Doro König bloggt regelmässig bei SchreibStimme. Doro liebt Worte. Ein wunderbare, feinsinnige und sprachbegabte Frau aus München, wo sie mit ihrem neunjährigen Sohn lebt. Studiert hat sie evangelische Theologie und Germanistik. Sie ist mit SchreibStimme auf der Suche, nach Worten, nach Sprache, nach sich selber.
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