Ich war unterwegs. In der Stadt.
Als ich auf dem Heimweg war und in der S-Bahn saß, blieb diese plötzlich bis auf weiteres stehen. Drei Stationen weiter hatte es einen Unfall gegeben und Unwetter drohten. Keiner konnte den Fahrgästen sagen, wie lange diese Unterbrechung anhalten würde. Nur noch drei Kilometer waren es bis zu meinem Ziel – meinem Zuhause. Ich wollte nicht ins Ungewisse warten – also ging ich los.
Als das Gewitter losbrach, bin ich gerade im Wald. Die hohen Bäume schützen mich etwas, doch ich bin mittendrin in den Urgewalten und komme von den tosenden Schauern dieses Sommergewitters vollkommen durchnässt zuhause an …
Ich merke es noch nicht gleich, aber ich hatte das Fenster gekippt offen stehen gelassen und sie waren alle ertrunken.
Meine Bücher.
Sie hatten die riesige Pfütze, die sich durch den Spalt des geöffneten Fensters hereingepresst hatte, vollständig aufgesaugt. Und stehen nun da: Aufgeschwemmt und triefnass. Die Liebsten, die ich habe. Diejenigen, die nicht gerade bei ihren Verwandten in meinem großen Regal stehen, sondern diejenigen, die mich im vergangenen Jahr bis heute aktiv begleitet hatten mit ihren Ratschlägen, Worten, Weißheiten, ihren Aufmunterungen und Impulsen.
Jetzt liegen sie überall verteilt herum. Die meisten fast bis auf das Doppelte aufgequollen. Ich nehme jedes einzeln in die Hand. Vorsichtig. Ich drehe und wende es, betrachte es kritisch. Bin bewegt. Bis zu diesem Zeitpunkt war es mir nicht bewusst gewesen, welche Bedeutung sie für mich hatten. Also nicht SO bewusst – in dieser Schmerzlichkeit und mit dieser Sentimentalität. Mir wurde die Isoliertheit des Lebens, das ich im vergangenen Jahr geführt hatte, mit einem Schlag ganz deutlich vor Augen geführt und die wärmende, freundliche Rolle, die diese papiernen Freunde darin für mich spielten. Die Hilfe, die sie mir gaben in meiner Zeit der Neuorientierung und des Rückzugs – aber auch der Mut, den sie mir immer wieder unaufdringlich zugesprochen hatten, wieder ins Außen und in Kontakt mit (den richtigen) Menschen zu gehen.
Und nun ist es an mir, zu helfen!
Ich leiste erste Hilfe: Ich kann etwas tun! Aber diese Hilfe ist begleitet von dem liebevollen Schmerz, den ich dabei für jedes einzelne Buch empfinde. Und bei jedem erscheint vor meinem inneren Auge der Zusammenhang und die Situation, in der ich es las. Das kommt für mich selber überraschend.
Ich nehme sie. Fächere sie auf und hänge sie über die Badewanne. Danach kommt der Fön. Nicht auf heißester Stufe, damit sich der Leim, der die Seiten zusammenhält nicht auch noch löst.
Hingebungsvoll leiste ich erste Hilfe und föne und föne – fächere sie wieder auf und föne weiter. Dann lasse ich sie in Ruhe. Bin für ein paar Tage verreist. Diese paar Tage braucht es, bis sie trocken sind. Dann werden sie gepresst zwischen anderen – schwereren – Büchern und Lasten.
Heute – Wochen später – stehen meine alten Freunde wieder auf der Fensterbank. Sie sind nicht mehr so frisch und neu wie vor dem Unglück, aber ich liebe sie mehr denn je.
Das Unwetter war verheerend gewesen. Der gesamte Bahnverkehr um München herum war für Stunden lahmgelegt. Zum Glück hatte es keine Toten oder schwer Verletzte gegeben.
Ich hatte mich über eineinhalb Stunden durch den tobenden Sturm und die peitschenden Regengüsse geschlagen und war zur Entdeckerin geworden. Nicht nur die unmittelbare Kraft der tobenden Naturgewalten hatte ich draußen, ungeschützt in ihrer erhabenen gewaltvollen Ästhetik erleben dürfen – auch das zarte Band der stillen Freunde neben mir, die mich unaufdringlich und liebevoll jeden Tag begleiten und die immer die richtigen Worte für mich haben – in jeder Situation des Lebens – erkannte ich mit einem Mal deutlich und klar …
Seit diesem Ereignis habe ich bewusster begonnen, draußen in der Welt nach den Menschen zu schauen, die mich – oft nur hin und wieder, aber beständig – begleiten. Ich habe sie aufmerksamer wahrgenommen und mir klargemacht, dass da Freunde dabei sind. Gute Freunde. Seelenfreunde. Nicht alle immer verfügbar, aber liebevoll und aufmerksam in meinem Leben. Einfach Menschen, die mir grundsätzlich wohlwollend gegenüber stehen. Und dass ich diesen nur hin und wieder ein wenig mehr Aufmerksamkeit schenken muss, wenn ich ihnen zeigen will, dass ich auch ihre Freundin bin und dass ich sie wohlwollend wahrnehme und mich um sie und das Leben, das sie führen bekümmere.
Einfach nur hin und wieder und immer wieder ein wenig fönen – das reicht vollkommen … ;-)
Manchmal braucht es eines großen Unwetters, um die wertvollen Dinge im Leben erkennen zu können. Manchmal braucht es den Donner, um aufzuwachen und klar zu sehen!
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