Wie ich mich traute, meine Kunst teilte, enttäuscht wurde, litt, wieder aufstand und weitermachte. Eine Geschichte für alle Künstler:innen. (Bild: © Ulrike Melzer, ohne Titel)
Ich war kreativ und traute mich - der Künstler wagt etwas.
Habe es nicht erwarten können, bis ich meine Kunst endlich mit der Welt teilen kann. Doch ich musste noch warten. Mal wieder.
Ich habe Menschen vertraut. Das Gute in ihnen gesehen. Trotzdem Ablehnung erfahren. Ich hätte mich zurückziehen können. Einfach hinlegen und sterben, dachte ich. Natürlich nicht wirklich sterben, nur nicht mehr teilnehmen am Wahnsinn, der sich Leben nennt.
Einfach Handy aus, Kopf aus.
Mein Leben, nur eine Aneinanderreihung von Träumen, die zerplatzen wie Seifenblasen, Träume anderer, die ich begleitete, weil mein Leben praktisch nicht existierte, nicht funktionierte.
Das kennst du, oder?
Und wurde wieder enttäuscht - der Künstler erlebt Entmachtung.
Ablehnung, Ent-täuschung.
Wieder nicht geklappt. Wieder ratlos vor dem Lebensrätsel stehen.
Wieder nicht gesehen werden.
Doch das Ende einer Täuschung ist etwas Gutes.
Dann endlich kannst du klar sehen.
Die Wirklichkeit erkennen.
Wie schlimm wäre es dagegen, ein Leben in Illusion zu wählen?
Was würdest du dir und anderen damit antun?
Habe ich versagt? - Traumata zeigen sich.
Menschen, die ein Trauma erlebt haben, das sie an anderen Menschen zweifeln lässt, erleben diese Momente sehr oft. Und sie erleben diese Momente ganz anders: Enttäuschung setzen sie mit Versagen gleich. Denn alles, was in ihrem Leben nicht gut läuft, bestätigt das zuvor Erlebte immer und immer wieder.
Dabei entwickeln sie einen Tunnelblick, verlangen von sich selbst zuviel. Denn es ist unrealistisch zu erwarten, dass man sich nie in Menschen täuscht, verzweifelt, Angst hat und versagt.
Nach einem Trauma ist es schwer daraus keine Geschichte zu spinnen, eine Bedeutung zu kreieren, die es so nicht gibt.
Den letzten Satz darfst du gern zweimal lesen:
Nach einem Trauma ist es schwer daraus keine Geschichte zu spinnen, eine Bedeutung zu kreieren, die es so nicht gibt.
(Bild: © Ulrike Melzer, Woman)
Etwas ändert sich. - Der Künstler bäumt sich auf.
In letzter Zeit erlebte ich viele solche Momente. Doch ich reagiere anders darauf. Der Impuls mich zu verstecken kommt noch immer. Doch ich stelle noch einen zweiten Impuls fest. Und der ist stärker: Ich habe keine Lust darauf mich mit dieser Geschichte zu identifizieren. Ich erkenne jetzt, dass diese Geschichten nicht meine sind. Sie gehören zu Freunden, Bekannten, Familie, Fremden.
Diese Geschichten sind mir vertraut, haben aber nichts mit mir zu tun.
Meine Wahrnehmung sieht etwas anderes.
Traumatisierte Menschen haben verlernt, der eigenen Wahrnehmung zu vertrauen. Dem Weg, der weiter führt. Es scheint einfacher zu sein sich gemeinsam mit all den anderen Verzweifelten in der gleichen Sackgasse zu verirren.
Diesmal vertraute ich. Vertraute meiner inneren Stimme, meinem Gefühl, das sich völlig unvernünftig und verrückt Wege bahnte, wo es eigentlich keine gibt.
Ich hörte, so kitschig es auch klingt, auf die Liebe. Und vertraute, als alles im Außen wegbrach, auf das, was ich wollte.
Ich entschied mich - der Künstler entdeckt erneut seinen Willen.
An diesen Punkt kommen wir mit unserer Kunst zwangsläufig. Es ist ein guter, wenn auch unangenehmer Turningpoint, der alles weitere entscheidet.
Was willst du? Wirst du an diesem Punkt gefragt. Daran glauben, dass alles, was du wolltest, nicht funktioniert?
Kann ja sein, dachte ich. Aber ich entscheide mich dazu, dass es funktioniert.
Und dann funktionierte es.
Denn deine Entscheidung ist mächtig. Sie wirkt anziehend auf andere. Willst du dein Buch verkaufen? Willst du diese Lesung, Konzert, Ausstellung machen? Dann bereite dich darauf vor. Übe. Sei SchriftstellerIn. Ohne Erlaubnis.
Du willst Bücher verkaufen? Dann schreibe.
Ich begann erneut. - Der Künstler geht wieder in Kontakt mit der Kunst.
Wenn ich in Kontakt mit meiner Kunst gehe, ohne sie von Ergebnissen im Außen abhängig zu machen, kommen die Ergebnisse im Außen. Weil ich mich nicht von ihnen abhängig mache, sondern sie als logische Folge meiner Arbeit betrachte.
Denn das was am Ende bleibt, wenn alles wegbricht, ist immer die Kunst. Wenn ich morgens aufwache, freue ich mich darauf zu schreiben, zu malen, zu singen. Das kann mir niemand wegnehmen.
Und es liegt an mir, ob ich diesen Weg weitergehe, die Stoppschilder ernst nehme, die mir Menschen mit Tunnelblick in den Weg stellen.
Zugegeben - dazu gehört Mut und auch eine gewisse Art von Frechheit, weil Stoppschilder verdammt einschüchternd wirken können.
Doch am Ende entscheiden wir alle selbst über unsere eigene Geschichte.
Vielleicht bist du die/der Einzige, die/der in einem Raum voller negativer Menschen lacht.
Vielleicht fühlt es sich manchmal wie eine Lüge an und tatsächlich wie eine verdrehte Wahrnehmung etwas zu sehen, das für andere (noch) nicht sichtbar ist.
Ich suchte eine neue Geschichte. - Der Künstler vergisst, wer er war.
Doch genau diese Fähigkeit macht Künstler zu Künstlern. Ohne diese Fähigkeit bleiben wir dann stehen, wenn ein Stoppschild kommt. Stehen nie wieder auf. Zerbrechen vielleicht sogar an den Schwierigkeiten und Widerständen.
Doch es sind nie die Hindernisse, an denen wir zerbrechen. Wir zerbrechen an unseren Geschichten.
Ich möchte eine Geschichte erzählen, die Kraft in der Verletzlichkeit entdeckt.
Eine Welt voller Menschen, die der Liebe vertrauen, was bedeutet, die Schatten zu umarmen statt vor ihnen davonzulaufen.
Eine Welt voller Verbundenheit.
Einheit statt Einheitlichkeit.
(Bild: © Ulrike Melzer, Garten)
Ich wandte mich dem Leben zu. - Der Künstler entdeckt die Welt.
Dass wir die Welt nicht kontrollieren können, abhängig sind von zufälligen Ereignissen und den Launen unserer Mitmenschen, getrennt voneinander coexistierende Welten, also lediglich auf die Welt reagieren statt uns als Teil von ihr zu begreifen, ist ein Narrativ, nach dem die meisten Menschen leben. Doch dieses Narrativ hält uns gefangen in Machtlosigkeit. So ist ein kreativer Prozess unmöglich.
Künstler sind Erschaffende. Wie sollen sie sich als diese begreifen, wenn sie in ihrem Leben nur eine passive Rolle spielen?
Wir können süchtig werden nach der Machtlosigkeit, den Geschichten von der Machtlosigkeit, von jemandem, der es mal wieder nicht geschafft hat.
Nach „realistischen“ Geschichten aus dem Leben von jahrelangen, vergeblichen Kämpfen und dem Aufgeben, einem Happy End im Mittelmaß.
Wir alle kennen sie, die Erleichterung, wenn es mal wieder ein Held nicht geschafft und es sich dann in der Nichterfüllung bequem gemacht hat.
Selten werden sie erzählt, die anderen Geschichten von denen, die erreichten, was sie sich vorgenommen haben. Der ideale Zustand wird immer wieder so erzählt, als gäbe es kein Davor. Keinen Weg zum Ziel.
Nur den Zielzustand als Gewinnergeschichte.
Und die nährt das Narrativ von denen, die Glück haben, und denen, die verlieren, vom Schicksal. Das Leben als Lotterie.
Maya Angelou - Selbstermächtigung durch Poesie
Ein Beispiel für Menschen, die sich der Machtlosigkeit nicht ergeben haben, ist eine meiner Lieblingspoetinnen: Maya Angelou.
Das Leben der Schriftstellerin und Bürgerrechtlerin ist ein Beispiel dafür, wie das funktioniert: In ihrer Biographie „Was für immer mir gehört“ beschreibt sie, wie die Poesie ihr die eigene Stimme zurückgab. Nach einer Vergewaltigung im Alter von 8 Jahren wurde sie stumm. Durch eine Freundin der Familie, eine Lehrerin, die ihr Bücher gab, entdeckte sie die Poesie und verliebte sich in die magische Kraft der poetischen Sprache. Die Aussage ihrer Mentorin „Du liebst die Poesie nicht, solange sie nicht aus deinem Mund kommt“ bewegte sie dazu, mit dem Schreiben anzufangen. Sie wurde eine weltberühmte Schriftstellerin. Außerdem war sie aktiv in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und wurde Professorin.
Ihr Lebensweg ist eine Aufforderung dazu, sich nicht die Stimme nehmen zu lassen - nicht von Umständen, Meinungen, traumatischen Erfahrungen. Einfach war ihr Leben nie, doch immer kam ihre Kraft aus der Kreativität. Mit 17 wurde sie schwanger, schlug sich als alleinerziehende Mutter eines unehelichen Sohnes durch, arbeitete als Köchin, führte ein Bordell mit zwei lesbischen Frauen, wurde Tänzerin und Sängerin. Sie hat hart für ihre persönliche Freiheit und die für alle Menschen gekämpft. „Freiheit bedeutet, nirgendwo hinzugehören“ sagte sie einmal. „Man gehört überall hin und nirgends.“
Sie lernte, dass es nicht funktioniert, es sich in der Freiheit bequem zu machen und dem Irrglauben zu erliegen, dass Freiheit einmal erlangt von selbst einfach so bleibt, ohne Engagement.
Werdet nicht passiv. Nicht ignorant und träge. Das sagt jeder ihrer Texte aus.
„Erfolgreich zu sein bedeutet, Dich zu mögen; zu mögen, was du tust und zu mögen, wie Du es tust.“
„Wenn du immer versuchst normal zu sein, wirst du niemals erfahren, wie besonders du sein kannst.“ (Maya Angelou)
Ihr Leben ändert sich, weil sie anfing zu schreiben. Deshalb begann sie auch Dinge in ihrem privaten Leben zu ändern. Das zog weite Kreise. Sie wollte diese Veränderung auch für ihre Mitmenschen und irgendwann für alle und engagierte sich in der Bürgerrechtsbewegung an der Seite von Martin Luther King.
Ihre Selbstlosigkeit war nur eine logische Folge ihrer Selbsterkenntnis und Selbstliebe. Sich selbst als kreativ, also erschaffend zu begreifen - dazu rief die Autorin immer wieder auf:
„Ihr mögt mich niederschreiben, Geschichte mit bitteren Lügen zurechtzwirbeln, ihr mögt mich in den übelsten Dreck treten, ich werde, wie Staub, dennoch aufwirbeln. Regt euch meine Freiheit auf? Warum plagt euch düstres Brodeln? Weil ich gehe, als hätt ich Ölquellen In meinem Wohnzimmer sprudeln. Ganz wie Monde und wie Sonnen, so verlässlich wie Gezeiten, ganz wie Hoffnung, hochaufsprießend, werde ich immer noch steigen.“
Kunst ist immer auch politisch - nicht im Sinne einer bestimmten politischen Richtung und Einstellung, sondern indem sie zur Einmischung anstiftet. Eine Einmischung, die nicht manipuliert und erzwingt, sondern Welten erschafft.
Zur Erkenntnis, die überraschend kommt, weil sie in keinem Schulbuch gelehrt wird: Ich muss entscheiden, wie ich leben will. Und diese Erkenntnis führt dann zur Entscheidung: So möchte ich die Welt haben. Und jetzt baue ich diese Welt.
(Bild: © Ulrike Melzer, Tribe)
Ich stand wieder auf. - Der Künstler lebt seine Kunst.
Ja,
Ich hätte an diesem Tag auch liegenbleiben können, so wie ich es schon so oft gemacht habe, tage-, wochen-, monatelang, bis mir Freunde herausgeholfen haben, die mir andere Geschichten erzählten, ich Songs von diesen Geschichten hörte und Bücher darüber las.
Bis ich anfing, anderen diese Geschichten zu erzählen, Gedichte darüber zu schreiben und Bilder davon zu malen.
Und nicht zuletzt diese Geschichten zu leben.
Sie ist immer noch Neuland für mich, diese kreative Welt.
Oft stolpere ich und lande auf dem Boden. Doch liegenbleiben, das geht nicht mehr.
Weil ich schreiben, malen und singen muss. Es geht nicht anders.
***
Zur Autorin: Ulrike Melzer, geb. 1981, lebt in Weimar. Sie ist Poetin, Schriftstellerin, Sängerin, Künstlerin. Gerade ist ihr Verlagsdebüt in der edition SchreibStimme erschienen:
Ulrike Melzer, VELROREN & GEFUNDEN. Trotzdem ein Liebesgedicht, Verlag SchreibStimme 2022, 288 S. mit 50 farbstarken Bildern der Autorin.
VERLOREN & GEFUNDEN besingt die grösste Macht der Welt: Auf einer Reise durch archetypische Räume - Städte, Ruine, Wüste, Garten, Meer - erleben zwei Seelen alle Facetten der Liebe. Sentimental und anklagend, humorvoll und sarkastisch seziert die Autorin dieses stärkste menschliche Streben.
Paperback
ISBN: 9783952555811
EUR 24,90/CHF 35,50
EBook
ISBN: 9783952555828
EUR 12,99
Überall im Buchhandel bestellbar.
Mehr Informationen und Leseprobe: https://www.verlag.schreibstimme.ch/ulrike-melzer-verloren-und-gefunden
Alle Bilder in diesem Blogartikel sind von Ulrike Melzer. Sie finden sich auch in ihrem Buch.
Poetische Texte, kurze Lesungen, ihre Musik und mehr sind auf ihrem Instagram-Account zu finden: @poet_81
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